Wie der On-line-Krimi funktionierte:
 
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Am Ende eines jeden Kapitels entschied das Publikum über den Fortgang der Geschichte.

Sie finden rechts alle sechs Kapitel hintereinander; am Ende eines jeden Kapitels erfahren Sie, welche Frage gestellt und wie sie von den Lesern beantwortet wurde.

 
 
Tod
 einer Gemeinderätin
 
  Kapitel 1:  Eine denkwürdige Gemeinderatssitzung
Die Abenddämmerung des strahlenden Herbsttages kroch das Auerental herauf nach Bachwilen. Gemeindeschreiber Graf schloss die Türe zum Sitzungszimmer auf und machte sich daran, die Unterlagen für die bevorstehende Gemeinderatssitzung bereitzulegen. Er genoss diese ruhige Zeit zwischen den oft aufreibenden Schalteröffnungszeiten und den Sitzungen, die zwar meist recht friedlich, doch manchmal bemühend wortreich abliefen, und liess seine Gedanken von einem Mitglied des Kollegiums zum nächsten schweifen, als er die Papiere auf die fest zugeordneten Plätze legte.

Den grössten Stoss erhielt naturgemäss Gemeindepräsident Stauffer. Felix Stauffer, Pflegedienstleiter im ALB - dem Alters- und Leichtpflegeheim Bachwilen - war integer, fleissig, freundlich - und stand in jeder Beziehung unter der Fuchtel: Im ALB unter der von Käthi Beutler, der resoluten Heimleiterin, daheim war seine Frau Mathilde die Chefin, wenn auch nicht auf die herrische Art, sondern sehr subtil und mindestens so wirkungsvoll durch Gewähren und Verweigern von Zuneigung; und schliesslich hier im Gemeinderat: Der Spruch von Schorsch Schäubi "Mir ist egal, wer unter mir Gemeindepräsident ist" und vor allem die Schamlosigkeit, mit der er damit um sich warf, sagte alles. Trotzdem: Felix tat sein Bestes, und hin und wieder rang er sich zu einer echt eigenständigen Meinung durch.

Und dann eben besagter Schorsch Schäubi. Seit urdenklichen Zeiten im Gemeinderat, nur unterbrochen durch kurze Pausen, die ihm die Amtszeitbeschränkung auferlegte, war er das, was man als Dorfkönig bezeichnete. Schäubis waren eine der "einheimischen" Familien und seit Menschengedenken im Besitz des Betriebes an der Aueren, ursprünglich eine Sägerei. Sie hatte, zusammen mit den ausgedehnten Wäldern im Osten an den Flanken der Auerenfluh, schon früh zu einem gewissen Wohlstand im Dorf beigetragen. Die Nutzung der Wasserkraft und das Sägen waren inzwischen aufgegeben worden, aber Schäubis verstanden es geschickt, als "Holzige" - Schorsch war Zimmermeister - das einheimische Baugewerbe zu dominieren. Denn die älteren Häuser im Dorf waren Riegbauten und die ersten Neubauten Chalets, als die Ansiedlung eines Lebensmittelverarbeiters der Migros in Markingen im Tal drunten Bachwilen einen kleinen Wachstumsschub bescherte. Schorsch wurde selten laut. Er hatte das auch nicht nötig. Seine tragende, tiefe Stimme, die an der stämmigen, aber bierbauchlosen Gestalt einen üppigen Resonanzkörper hatte, zeugte von der Gelassenheit des Mächtigen und davon, dass er wusste, was gut für die Bachwiler war.

Am Gemeinderat und Elektriker Helmut Wismer zeigten sich exemplarisch dörfliche Abhängigkeiten: Sein Geschäft für Haushaltgeräte lief nicht besonders. Viele Bachwiler kauften ihre Waschmaschinen und Kühlschränke beim Dipl. Ing. im Amtshauptort Grafenstadt, und so war Wismer auf jeden Auftrag angewiesen, bis hin zur Wartung der öffentlichen Beleuchtung und der Beschallung der Mehrzweckhalle bei den Lottos der Dorfvereine. Und natürlich auf die in letzter Zeit eher rar gewordenen Neubauten, sonst hätte Wismer einen Büetzer entlassen müssen oder keinen Stift mehr annehmen können, was bedeutet hätte, dass er wieder hätte Werkzeug in die Hand nehmen müssen, und das lag ihm nicht. Lieber hätte er selber die Rolle des Dorfkönigs übernommen. Zuweilen stiess ihm sauer und schmerzlich die Erkenntnis auf, welcher Duckmäuser er doch geworden war. Er kompensierte dies notdürftig durch einen für Dorfverhältnisse unüblich gepflegten Outfit - und in letzter Zeit immer mehr durch ausgedehnte abendliche Besuche im Rössli, wo er sich nach etlichen spendierten Runden ein bisschen wie ein Dorfkönig vorkommen durfte. Aber der Kater folgte jeweils prompt.

Die Exotin im Kollegium war zweifellos Elsbeth Widmer, nicht nur, weil sie hier die einzige Frau war. Sie lebte mit Stefan "Stiefi" Trachsel zusammen im Bedli im Auerengraben hinten, einem früheren Bad, wie es in der Gegend viele gegeben hatte. Einzige Voraussetzungen für solche Etablissements waren Wasser, Holz und verschwiegene Lage gewesen, wo sich Herren und "Damen" zum Baden in grossen, geheizten Bottichen zu treffen pflegten. Dann, als die Blütezeit solcher Häuser vorbei war, blieb das Bedli, zunehmend verlotternd, den Süffeln von schwarzgebranntem Härdöpfeler vorbehalten. Wirtschaftsaufschwung und Denners Spirituosenpreise machten auch dieser Karriere ein Ende, und das Bedli blieb einige Zeit leer, bevor Stiefi dort einzog, das Hauptgebäude notdürftig bewohnbar machte und eine kleine Produktion aufbaute für Holzspielwaren, die er in Grafenstadt und Bern auf dem Märit zu verkaufen versuchte. Mit dem Einkommen, das Elsbeth mit ihrem Teilzeitjob als Sekretariatsangestellte beim regionalen Sozialdienst in Markingen verdiente, reichte es für ein bescheidenes Leben. Mag sein, dass die Konfektionierung der mannshohen Stauden, die man verteilt an schlecht zugänglichen Börtern und Waldrändern fand, einen nicht unerheblichen Anteil am Einkommen - und dazu noch unversteuert - ausmachte. Wie Elsbeth in den Gemeinderat gekommen ist? Das war so: Elsbeth und Stiefi, politisch zwar interessiert, aber mit den lokalen Gegebenheiten noch nicht so vertraut, wollten wenigstens einmal im Leben an einer Gemeindeversammlung teilnehmen. Zwar musste ein Gemeinderatssitz neu besetzt werden, aber am gleichen Abend stand eben auch ein WM-Ausscheidungsspiel der Fussball-Nati auf dem Programm, das durch die spezielle Tabellensituation plötzlich wegweisende Bedeutung erhalten hatte. Die one and only Ortspartei hatte Aschi Schnegg, Automech in Bühlers Garage und eigentlich nur daran interessiert, in Motorblöcken zu wühlen, zur Kandidatur überredet. Er und seine Promotoren fanden es nicht für nötig, an der Gemeindeversammlung teilzunehmen, durfte man doch annehmen, dass die Wahl eine Formalität sein würde. So kam es, dass Stiefi bei der Nachfrage des Sitzungsleiters, ob die Vorschläge vermehrt würden, Elsbeth mit dem Ellenbogen anstiess und sie fragte, ob sie nicht wolle. Sie zog eigentlich nur die Augenbrauen hoch, aber Stiefi meldete sich und improvisierte eine Rede von wegen Vertretung der jungen Generation und so. Weil wegen des Fussballmatches sowieso nur wenige und aufgrund einer Vorlage über den Vertrag mit der Markinger Jugendarbeitsstelle fast nur gemeindeversammlungs-atypische Bürgerinnen und Bürger anwesend waren, wurde Elsbeth gewählt.

Auch nicht ganz der Norm entsprach Ruedi Hofmann, war er doch der bisher einzige Bauer der Gemeinde, der auf Bio umgestellt hatte. Dass er zur Wahl vorgeschlagen worden war, hatte er der Lage seines Hofes zu verdanken: Auf der Geländeterrasse Richtung Nettigkofen, dem Nettiger Feld, gelegen, gewährte er schon seit langem der Hornusser Gesellschaft Gastrecht. Schon als Giel hatte sich Ruedi am Abschlag versucht, und mittlerweile, mit Mitte dreissig und voll im Saft, war er der beste Schläger und als solcher geradezu prädestiniert zum Gemeinderat. Er war ein ruhiger, besonnener Mensch, der sich nicht beirren und von seiner Meinung abbringen liess und die unvermeidlichen Niederlage mit derselben Ruhe hinnahm, wie er sich auf einen Abschlag vorbereitete. Die Bachwiler Bauern hatten ihm Misserfolg mit dem Biozeugs prophezeit - und neideten ihm jetzt den Erfolg, redeten sich damit heraus, dass nur die Lage dafür verantwortlich sei, denn das Nettiger Feld schloss an die neuen Quartiere an mit den Pendlern und jungen Familien, und Hofmanns Direktverkaufs-Kiosk war über einen gäbigen Feldweg der Weide mit den schottischen Urviechern, den zwei Eseln, den freilaufenden Hühnern und Schweinen entlang erreichbar - Einkauf und Hunde- oder Kinderspaziergang waren damit ideal und attraktiv miteinander zu verbinden.

Wie üblich im Kanton Bern waren die Bauern auch im Bachwiler Gemeinderat übervertreten: Der zweite Landwirt war der Hubelbauer Willy Gubler. Ihm hätte es eigentlich gut gehen müssen, denn sein Vater hatte noch vor der Raumplanungsära im Auerenried Land verkaufen können, als der erste Einfamilienhaus-Boom einsetzte. Leidenschaftlicher Landwirt, der er war, hatte er den Ertrag grösstenteils in die Modernisierung und Mechanisierung des Hofes gesteckt. Sohn Willy konnte später für die Häuser am Friedhofweg auch einen schönen Schübel einstecken, aber die kostspielige und luxuriöse Sanierung des Wohnteils, ein 7er BMW, die Sorglosigkeit der Jungmannschaft im Umgang mit Geld und die Entwicklung des Milchpreises brachten mit sich, dass Willy nun zu einem der begabtesten Kläger über GATT, WTO, die im Amtssitz Grafenstadt, in Bern und Brüssel geworden war. Trotzdem: Dank des stattlichen Ausmasses des Hofes und weil keine Investitionen nachgeholt werden mussten, war ihm die Härte wirklicher existentieller Bedrohung eigentlich fremd.

Niemand hatte sich getraut, Schulleiter Hans Friedrich nicht zu wählen, als er von einer Elterngruppe vorgeschlagen worden war. Nicht dass er unbeliebt war, aber den typischen Gemeindeversammlungsgängerinnen und -gängern waren das, was sie "Intellektuelle" nannten, eher suspekt. Er war tatsächlich so etwas wie das Gewissen des Gemeinderats geworden, weniger in ethischer als in juristischer Hinsicht, denn niemand - natürlich abgesehen vom Gemeindeschreiber - war in Sachen Gesetzen und Reglementen so sattelfest wie er. Gerade damit stiess er hin und wieder auf Widerstand. Es wurde ihm Formalismus vorgeworfen, wenn er auf der Durchsetzung der Bestimmungen beharrte, ja sogar Beschwerden beim Regierungsstatthalter androhte. Man hätte sich gerne nach den eigenen Bedürfnissen über das, was die in Bern meinten, hinweggesetzt. War Friedrich in der ersten Zeit unnachgiebig - natürlich nannte Schorsch das "stur" -, so verlor er, je näher seine Pensionierung kam, langsam Lust und Kraft zu kämpfen. Das Hickhack um die Mehrzweckhalle hatte ihn erschöpft. Auch wenn er sich zuletzt als Sieger bezeichnen durfte, war ihm bewusst, dass die Umstellung auf das neue Schulmodell und damit die Tatsache, dass die älteren Schüler nun ins Oberstufenzentrum in Markingen mussten, letztlich ausschlaggebend gewesen war. So fiel der Plan, eine neue Schulanlage auf der grünen Wiese zu bauen, ins Wasser. Statt dessen wurde, wie es Friedrich schon immer angestrebt hatte, das Hubelschulhaus saniert, gegenüber eine Mehrzweckhalle gebaut und im neuen Dorteil ein weiterer Kindergarten eröffnet.

Es war dunkel geworden im Sitzungszimmer. Graf hatte die Unterlagen bereit gelegt, geprüft, ob die Birne des Overhead-Projektors nicht schon wieder das Zeitliche gesegnet hatte, und Mineralwasser auf den Tisch gestellt. Die Gemeinderatsmitglieder trafen nach und nach ein, steckten noch die Köpfe zusammen, um das eine oder andere vorzubesprechen. Noch war das Kollegium nicht komplett, als das Telefon läutete. Graf nahm stirnrunzelnd den Hörer ab. Die Anwesenden wurden leise und verstummten, als Graf die Hand langsam hob und sich in seinem Gesicht Betroffenheit abzeichnete. Er legte im Zeitlupentempo auf und sagte mit ihm selber fremder Stimme: "Unser/e Kollege/in ist soeben tot aufgefunden worden."

Publikumsfrage: Welches Mitglied des Gemeinderatskollegiums ist tot aufgefunden worden?

Antwort: Elsbeth Widmer

 
 
  Kapitel 2:  Der Verdacht

Sämu Hubers Hof lag auf der Sonnseite, nördlich des Auerengrabens, was ihm nach dem Znacht auch im Herbst noch genügend Tageslicht bescherte, um Zäune zu flicken. Genau das tat er an diesem Abend. Dabei bemerkte er - zunächst nur aus den Augenwinkeln - drunten in der Aueren etwas, was dort nicht hingehörte, einen farbigen Flecken, vielleicht einen Haufen Kleider. Als er genauer hinschaute, glaubte er erkennen zu können, dass es sich um einen leblosen Menschen handelte. Er eilte auf den Hof zurück, holte den Feldstecher - und sah seinen Verdacht bestätigt. Auf der anderen Seite des Baches, dort, wo der Bachweg die alte Beiz "Bedli" mit dem Dorf verband, blitzte in der tief stehenden Abendsonne ein Fahrrad, halb über dem Abgrund hängend. Nach kurzem Überlegen griff er zum Telefon und wählte 117.

Von Weitem hörte man das Martinshorn, als der Streifenwagen die Strasse von Markingen nach Bachwilen herauf hetzte. Weiter weg meldete sich bereits das akustische Signal der Ambulanz. In Bachwilen erregte das nicht so viel Aufsehen, im Alters- und Leichtpflegeheim kamen medizinische Notfälle öfters vor. Allerdings bogen die Fahrzeuge nicht hinter der Kirche rechts ab, sondern folgten zunächst der Auerhofstrasse und wandten sich danach nach links in den Bachweg.

Es sollte später einen grausamen Rüffel absetzen für die Streifenpolizisten Wacker und Dummermuth, weil sie auf dem Bachweg so nahe wie möglich an den angegebenen Ort gefahren waren. Aber wie hätten sie zu diesem Zeitpunkt schon ahnen sollen, dass sie dadurch mögliche Spuren niederwalzten? Und, wie sich schnell herausstellte, nachdem Dummermuth mit dem Notarzt ins Tobel runtergestiegen war, hatte alle Eile der Frau, die mit zerschmetterten Gliedern im steinigen Bachbett lag, nicht mehr helfen können. Dummermuth funkte den traurigen Befund zu Wacker hinauf. Der engegnete: "Lasst alles liegen, da ist etwas lusch, ich verständige Bern", was soviel hiess wie: Hier musste die Spurensicherung und das Dezernat Leib und Leben eingeschaltet werden, weil weiter gehende Abklärungen nötig waren.

Wie war Wacker zu diesem Schluss gekommen? Dort, wo der Bachweg, vom "Bedli" aus gesehen, zunächst abfiel und sich dann unübersichtlich nach links bog, lag ein abgeasteter, schlanker Fichtenstamm schräg über das Strässchen. Die Tote musste mit dem Velo vom Bedli her mit Schwung den Stutz runter gefahren sein und das Hindernis erst in letzter Sekunde gesehen haben, so spät, dass kein Bremsen mehr möglich war. Der Stamm, der auf der einen Seite auf dem Bort, auf der anderen Seite auf dem Geländer lag, musste sie unwiderstehlich gegen den Auerengraben abgelenkt haben, so dass sie den morschen Zaun durchbrach und mit Wucht über den Felsen ins Bachbett katapultiert worden war.

Die Frage, die sich zu aller erst stellte, war natürlich: Wie war die Fichte hierher gekommen? Steckte da Absicht dahinter? Der Weg, der hier auf der Schattseite im Wädchen entlang der Aueren immer etwas feucht war, würde in diesem Fall möglicherweise Spuren aufweisen. Diese Erkenntnis schoss Wacker ins Bewusstsein, und er fing sofort an damit, alles abzusperren, was noch nicht vom Streifenwagen und der Ambulanz zermalmt war. Er eilte zu Fuss zur Auerhofstrasse zurück und spannte ein Plastikband quer über den Bachweg. Gerade als er sich abwandte, fuhr ein kleiner Kastenwagen vor und blieb, über die Vorderachse einnickend, knapp vor der Absperrung stehen. Man hörte die Handbremse ratschen, und Stefan Trachsel stieg aus. "Was ist denn hier los?" "Hier ist abgesperrt," entgegnete Wacker überflüssigerweise, "fahren Sie einfach weiter." "Ich wohne hinten im Bedli, ich muss hier durch!" insistierte Trachsel.

Das war eine der Situationen, die Wacker hasste. Was durfte, was musste er sagen? "Wie ist Ihr Name? Wohnen Sie alleine da hinten? Hat es ausser dem Bedli noch weitere Häuser?" Trachsel gab seinen Namen an. "Ich wohne mit meiner Partnerin, Elsbeth Widmer, zusammen. Sonst gibt es da nur noch Füchse und Hasen." "Ist Frau Widmer schlank, schwarzhaarig? War sie heute Nachmittag zu Hause?" "Schlank stimmt, und dunkle Haare hat sie auch. Am Nachmittag war sie auf der Arbeit in Markingen. Normalerweise kommt sie am halb sechs mit dem Poschi heim. Heute Abend hat sie noch Gemeinderatssitzung, da wird sie vor einer halben Stunde wieder weggefahren sein."

Gopfriedstutz, warum preicht es immer mich? dachte Wacker. Nach kurzem Zögern senkte er den Blick und brachte stockend hervor: "Sie können jetzt nicht zum Bedli fahren. Ihre Freundin hatte einen ... Unfall."

Die Publikumsfrage am Ende des zweiten Kapitels hatte gelautet: Über wen wurden an Elsbeth Widmers Arbeitsplatz belastende Unterlagen gefunden?

Antwort: Georg Schäubi

 
   
  Kapitel 3:  Machenschaften

Ein Bild wie aus einer Chandler-Verfilmung: Eine etwas antiquierte ausziehbare Bürolampe beleuchtete im abendlichen Dämmerlicht einen Schreibtisch, auf dem Vernehmungsprotokolle, Fotos, Berichte, Skizzen herumlagen. Davor sass auf dem - ebenfalls nicht mehr ganz neuen - Bürodrehstuhl ein Mann, den Kopf auf die Hände gestützt, den Blick zwischen den Papieren hin und her wandern lassend: Bernhard Jeger, Mitarbeiter des Dezernats Leib und Leben, federführender Ermittler im Fall Elsbeth Widmer, Bachwilen. Seufzend lehnte er sich nach einer Weile zurück, streckte die Beine und liess hinter geschlossenen Augenlidern vorbeiziehen, was in den letzten Tagen geschehen war:

Als Diensthabender an jenem Abend war es ihm zugefallen, die Leitung der Ermittlung im Bachwiler Todesfall zu übernehmen. Als er damals zum Tatort gefahren war, die erst spärlichen Informationen überdenkend, hatte die Spannung zunächst überwogen: Würde es ein Routinefall werden oder ein Fall, der Aufsehen erregen würde, einer, der für seine weitere berufliche Laufbahn richtungsweisend sein konnte? Angesichts des zerschmetterten Körpers aber wich diese Stimmung einer Niedergeschlagenheit und der dumpfen Hoffnung, dies möge lieber ein tragisches und unglückliches Schicksal sein, als dass ein Mensch dies bewusst herbeigeführt und zu verantworten hätte.

Der Ermittlungsstrang, der - neben den technischen und medizinischen Bestandesaufnahmen - Priorität hatte, war deshalb daraufhin gerichtet gewesen herauszufinden, ob ein Unfall oder ein Mord vorlag. Im Vordergrund stand die Frage, wie die Fichte in die verhängnisvolle Position gelangt war. Jeger hatte sofort das Gebiet weiträumiger absperren lassen, insbesondere den bewaldeten Hang oberhalb des Bachwegs bis hin zur Terrasse, auf der das Restaurant Auerhof lag. Viel konnte man im Moment nicht mehr tun, weil es dunkel geworden war und die Gefahr bestand, beim Absuchen des steilen Waldes mehr Spuren zu zerstören als zu finden. Bereits beim Absperren war der Stapel geschlagenen Holzes an der Auerhofstrasse aufgefallen, dort, wo sie über die Geländestufe dem Waldrand entlang in die Tiefe tauchte. Die Spurensuche am folgenden Morgen und der Augenschein mit dem Forstpersonal hatte Gewissheit gebracht: Die Fichte stammte von diesem Stapel, und es führten Schleifspuren, unter denen hin und wieder auch Reste von Fussspuren zu erahnen waren, den Hang hinunter zum Bachweg. Leider hatte es sich als aussichtsloses Unterfangen erwiesen, die Fussspuren weiter zu verfolgen. Wenn sich die Person, die forthin mit dem Ausdruck "Täter" bezeichnet wurde, innerhalb der Spurrinne auf dem Bachweg Richtung Dorf bewegt hatte, dann bestand keine Chance, über Details seiner Fussbekleidung etwas in Erfahrung zu bringen, denn die Ambulanz und das Fahrzeug der mobilen Polizei hatten ganze Arbeit geleistet ...

Selbstverständlich hatte es zu den ersten Aufgaben gehört, Elsbeth Widmers Tagesablauf zu rekonstruieren. Daraus ergab sich nichts Aussergewöhnliches: Wie jeden Dienstag war Elsbeth mit dem Halb-Zwei-Postauto nach Markingen an ihre 50%-Stelle im Regionalen Sozialdienst, wo sie die Administration erledigte, gefahren, und sie war um halb Sechs mit dem Postauto zurückgekommen. Sie hatte wie üblich ihr dorfbekanntes, vollgefedertes, schockfarbenes Mountainbike vom Veloständer bei der Kirche losgebunden und war, ohne Einkäufe bei Hunzikers im Dorfladen gemacht zu haben, nach Hause gefahren. Dort hatte sie sich ein Mischgemüse aufgewärmt - die Hausdurchsuchung und die Obduktion hatten dies ergeben - und war vermutlich gegen 20 Uhr losgefahren, um pünktlich an der vierzehntäglichen Gemeinderatssitzung teilzunehmen. Sie war als rassige Bikerin bekannt, und sie schätzte es nicht, noch lange Minuten im Sitzungszimmer herumzustehen, es sei denn, sie hätte noch etwas mit jemanden zu besprechen gehabt. Der Täter hatte also zwischen ca. 17:40 und - vorsichtig geschätzt - 19:30 Zeit, um seine Vorkehrungen zu treffen. Natürlich war es nicht gänzlich ausgeschlossen, dass ein Dumme-Jungen-Streich mit verheerenden Folgen vorlag, aber als Arbeitshypothese musste gelten: Da hatte jemand ganz genau überlegt, wann er wo was machen musste, um Elsbeth Widmer - und nur sie - zu treffen.

Und damit war klar: Ein wesentlicher Teil der Nachforschungen hatten sich mit der Suche nach möglichen Motiven zu beschäftigen. Der Innendienst des Dezernats war dabei, des Opfers persönliche Unterlagen zu sichten. Deren gab es nicht wenige, Elsbeth Widmer hatte offenbar jede Karte, jeden persönlichen Brief aufgehoben. Auch ihr Arbeitsplatz war unter die Lupe genommen worden. Als er daran dachte, was dies und die darauffolgenden Ermittlungen in den letzten Tagen ergeben hatte, kam Bewegung in die Mimik von Bernhard Jeger: Da hatten sie möglicherweise den Anfang eines roten Fadens aufgenommen, der dem Bild von Elsbeth Widmer als das einer arg- und harmlosen, eher unerheblichen jungen Frau eine neue Facette beifügt hatte.

Sie hatten nämlich auf dem PC an Frau Widmers Arbeitsplatz die Abschrift eines Handelsregisterauszugs aus dem Fürstentum Lichtenstein über eine Holding-Firma namens Agriholding AG gefunden, in deren Verwaltungsrat Georg Schäubi sass und die 100% der Aktien einer Agricultura AG hielt, die wiederum jeden Quadratmeter landwirtschaftlichen Landes in der Umgebung des Dorfkerns von Bachwilen besass, der je in den freien Verkauf gelangt war. Noch war nicht klar, wie das bäuerliche Bodenrecht umgangen worden war, aber es schien, dass die Bewilligung zum Erwerb jeweils erteilt worden war, weil sich kein anderer Kaufinteressent gemeldet hatte - erstaunlich angesichts der Tatsache, dass rings um das Dorf landwirtschaftliche Betriebe lagen. Jedenfalls waren alle Parzellen, die sich im Besitze der Agricultura befanden, den angrenzenden Betrieben zur Bewirtschaftung ohne Pachtzins, allerdings auch ohne Pachtvertrag, überlassen worden.

Wie war Elsbeth Widmer an diese Information gekommen? Was hatte sie damit beabsichtigt? Wer wusste sonst noch davon? Setzte der Umfang dieser Geschäfte nicht fast eine Komplizenschaft unter den Dorfhonoratioren voraus? Hier war Fingerspitzengefühl beim Beschaffen weiterer Informationen gefordert. Jedenfalls wollte Jeger unter der Hand einen ersten, diskreten Blick auf die Alibis der in der Dorfpolitik Tätigen werfen. Er setzte sich auf und notierte diesbezügliche Aufträge an die Mitglieder seines Teams.

Die Publikumsfrage am Ende des dritten Kapitels hatte gelautet: Wer hat ein wasserdichtes Alibi, wer nicht?

Antwort: Alle Gemeinderäte haben ein Alibi, ausgenommen G. Schäubi und F. Stauffer; auch S. Trachsels Alibi vermag nicht zu überzeugen.

 
   
  Kapitel 4:  Volkes Stimme

Das "Büro", wie die Gesamtheit der mit dem Fall Betrauten intern genannt wurde und das fast täglich zusammensass, beschäftigte sich anderntags mit der Taktik in Sachen diskretes Rumhören nach den Alibis der Dorfhonoratioren. Da es sich dabei um Politiker handelte, war der Einstieg gegeben: Wen man auch immer traf - im Rössli, im Dorfladen -, der sollte danach gefragt werden, wie man denn mit der Dorfpolitik und den Dorfpolitikern zufrieden sei, was so laufe, wo man wen im Dorf sehe. Das sollte informell geschehen, es sollten Fahnder eingesetzt werden, die bisher im Dorf nicht als Ermittler aufgetreten waren. Vermutlich würden die Leute sie für Journalisten halten - deren hatte es zurzeit in Bachwilen sowieso in Hülle und Fülle -, und man sollte sie zwar nicht gerade belügen, aber in diesem Glauben belassen. Die Fülle der resultierenden Einzelfakten sollten im Dezernat Leib und Leben zusammengetragen und von Innendienstmitarbeiterin Eveline Jutzi gesichtet und geordnet werden. Daneben sollte die normale Befragung der Bachwiler Bevölkerung nach Beobachtungen, die im Zusammenhang mit der Tat stehen könnten, ganz normal weiter laufen.

Getrost direkt nach seinem Tagesablauf befragen konnte man Stefan Trachsel. Das behielt sich Bernhard Jeger selber vor. Er verabredete sich mit ihm für diesen Nachmittag im Bedli. Als er dort bei strahlendem Frühherbstwetter vorfuhr, arbeitete Trachsel mit nacktem Oberkörper im Garten. Er blickte auf und dem Besucher entgegen, legte sein Werkzeug ab, begrüsste Jeger und führte ihn auf die bröckelnde Stampfbeton-Terrasse, wo sie auf alten Autositzen an einem angerosteten runden, roten Tisch Platz nahmen, der wohl schon vor Jahrzehnten Dienst getan hatte, als das Bedli noch über einen Restaurantgarten verfügt hatte. Fast entschuldigend sagte er, der Garten warte halt nicht, und es tue ihm gut, so etwas zu machen, er könne sich nicht so recht auf eine anspruchsvollere Tätigkeit konzentrieren.

Aufgefordert zu erzählen, wie der besagte Dienstag für ihn verlaufen sei, begann er: "Am Dienstag ist jeweils Wochenmarkt in Grafenstadt. Ich gehe nicht jede Woche hin, aber an diesem Tag war ich dort. Das bedeutet vorbereiten, packen, Fahrt, aufstellen des Standes, und dann stehe ich bis mindestens vier Uhr hinter dem Stand. Bis alles gepackt und aufgeräumt ist, wird es jeweils so fünf Uhr. Dann musste ich noch jemandem etwas bringen, dann bin ich ein bisschen rumgehangen. Etwas nach 20 Uhr war ich dann in Bachwilen, das wissen Sie ja."

"Wem haben Sie wann was wohin gebracht?"
Trachsel druckste rum: "Halt ein ... Produkt aus meiner Werkstatt. Es war sowieso niemand zu Hause, ich habe es einfach deponiert."
Jeger konnte sich damit nicht zufrieden geben: "Da klafft ein ziemliches Loch zwischen dem Abbruch des Marktstandes und Ihrer Ankunft in Bachwilen, da müssen Sie mir schon etwas Konkreteres darüber sagen!"
Nach längerem Überlegen meinte Trachsel: "Glauben Sie was Sie wollen: Ich war wirklich bis ungefähr Viertel vor Acht in Grafenstadt. Ich kann darüber nicht mehr sagen. Wenn meine Schwarte voll beladen ist, brauche ich mindestens eine halbe Stunde für die Fahrt nach Bachwilen."
Jegers Nachhacken brachte nichts. Schliesslich tippte er die spärliche Aussage in den Laptop, druckte das Protokoll aus und liess es von Stefan Trachsel unterschreiben.

Bernhard Jeger eröffnete das Treffen des "Büros" zu den bisherigen Ergebnissen der Aktion "Rumhören" mit einem kurzen Bericht über sein Gespräch mit dem Lebenspartner des Opfers. Eveline Jutzi hatte dazu von den Fahndern das Gerücht gehört, dass Stefan Trachsel einen kleinen, aber wohl einträglichen Handel mit Hanfprodukten unterhielt. Die Untersuchungsrichterin Barbara Aellen zog die Augenbrauen hoch und machte sich dazu eine Notiz. Jedenfalls lag der Verdacht nahe, dass Trachsels Unwille, detaillierte Angaben zu seiner Alibi-Lücke zu machen, damit zu tun hatte. Tatsache blieb aber: Trachsel hatte kein zufrieden stellendes Alibi angegeben.

Dann trug Eveline Jutzi die Informationen vor, die von den Fahndern zu den einzelnen Mitgliedern des Gemeinderatskollegiums zusammengetragen worden war:
Gemeindepräsi Felix Stauffer galt als integrer Typ, dem niemand etwas Unrechtes zutraute. Andererseits schien niemand so richtig warm zu werden mit ihm. Er kam allen etwas verdrückt, verklemmt vor. Es war zu hören, dass er überall "ds Zwöi am Rügge" habe, im Gemeinderat, im Alters- und Leichtpflegeheim und daheim. Unfreundlich sei er nicht, keineswegs, aber es käme einem so vor, als ob es ihm Mühe mache, mehr als das Nötigste mit den Leuten zu sprechen. Zum Beispiel am vergangenen Dienstag: Einige Anwohner der Mattenstrasse waren in ihren Gärten beim Abendessen gesessen. Stauffer sei mit der Mappe unter dem Arm vorbeigegangen, ohne nach links und rechts zu schauen, und wenn ihm jemand einen Gruss zugerufen hatte, sei er fast zusammengeschreckt und habe kaum zurückgegrüsst. Wann das gewesen sei? Na ja, so kurz vor 19 Uhr. Von Gemeindeschreiber Graf wusste man, dass keiner der Gemeinderäte vor 19:50 Uhr im Sitzungszimmer erschienen war. Jeger notierte: "Stauffer: 19:00 -19:50?"

Über Georg "Schorsch" Schäubi schieden sich die Geister im Dorf: Die einen hielten ihn für "ne guete Siech, wo zuenis luegt", die anderen nannten seinen Namen im gleichen Atemzug mit der Bezeichnung einer wenig schmeichelhaften Körperöffnung. Deutlich zeigte sich die Polarisierung darin, wie die Bachwiler auf Schäubis immer öfter verkündetes Postulat reagierten, den Siedlungsraum auszudehnen, "das Dorf von seinen Fesseln zu befreien", wie er sich ausdrückte, ja sogar eine Gewerbezone auszuscheiden: Den einen glänzten die Augen in Erwartung von Arbeit, Steuergeldern und Umsatzsteigerungen, die andern befürchteten, das Dorf würde zersiedelt, seinen anmutig ländlichen Charakter verlieren und die Last der Infrastrukturkosten nicht bewältigen können. Nur einem Zug von Schorsch wurde einmütig, wenn zum Teil auch leise Zähne knirschend, Bewunderung gezollt: Seit seine Gesichtsfarbe bis vor zwei Jahren in dem Masse röter geworden war, wie seine Gestalt an Stattlichkeit zugelegt hatte, traf man ihn völlig untypgemäss mindestens drei Mal pro Woche auf dem Bike, am Dienstag und Donnerstag jeweils kurz nach seinem Feierabend gegen 18 Uhr, am Sonntag morgens so, dass er vor der Predigt, die er kaum je versäumte, noch Duschen und sich sonntäglich anziehen konnte. Ja, man hatte ihn auch an jenem Dienstag gesehen, wie er das Dorf Richtung Auerhof verlassen hatte. Nein, man könne sich nicht erinnern, seine Rückkehr beobachtet zu haben, vielleicht sei ja Tagesschau-Zeit gewesen. Jeger notierte: "Schäubi: 18:00 -? Auerhof (beim Holzstapel?)!".

Die Erwähnung von Helmut Wismer rief bei den Angesprochenen meist eine leicht verächtliche Geste hervor, ein Schulterzucken oder ein schiefes Grinsen. Zwar war und blieb er derjenige, den man anrief, wenn sich akute Probleme mit elektrischen Installationen zeigten, denn fachlich war ihm und seinen Büetzern nichts anzukreiden. Aber er geriet leicht zur Lachnummer, wenn er - entgegen dem, was man beim durchschnittlichen Rössli-Besucher beobachtete - dort im nachtblauen Zweireiher und mit seidener Krawatte erschien und nach etlichen Runden mit grossartigen Gebärden sein reichlich verschwommenes politisches Credo mit schwerer Zunge verkündete. Es war auch aufgefallen, dass daheim der Haussegen offenbar ziemlich schief hing, denn immer häufiger sass er bereits vom Feierabend an bis zur Polizeistunde am Stammtisch und nahm fast nur flüssige "Nahrung" zu sich. So auch am Dienstag; Wirtin Frieda Flückiger hatte ihn kurz vor 20 Uhr gefragt, ob er denn heute nicht in den Gemeinderat müsse. "Sch...on", hatte Helmut gebrummelt und war, unter dem Grinsen der Anwesenden und mit schon etwas schweren Beinen, aufgestanden und sei abgezogen. Jeger notierte "Wismer" und setzte einen Haken dahinter.

Wenn ausnahmsweise jemand die Nase rümpfte, wenn die Sprache auf Ruedi Hofmann kam, dann konnte man sicher sein: Es war ein Bauer, denn Ruedi war ihnen ein Dorn im Auge, einfach darum, weil er Erfolg hatte mit der Umstellung seines Hofes auf Bio und mit seinem Direktverkauf. Die meisten, vor allem die Bewohner der Quartiere Richtung Nettigkofen, wussten nur Gutes zu berichten. Fast alle hatten sie schon bei ihm eingekauft, und es fanden sich etliche, die sich letzten Dienstag um die Abendessenszeit von ihm mit Hochstammäpfeln oder Gemüse hatten eindecken lassen. Solange die Abende lang, warm und hell blieben, war Ruedis Hofverkauf bis um 20 Uhr offen, und meist bediente er - wie auch am Dienstag - selber, trat auch gerne mit den Käufern auf den Vorplatz hinaus und zeigte von Ferne, von welchem Feld oder Baum das Eingekaufte stammte, wechselte ein paar Worte darüber, welche speziellen Qualitäten diese Frucht hatte und ob dieser Sorte das Wetter gut getan habe oder nicht. Jeger notierte "Hofmann", zögerte einen Moment und setzte dann einen grossen Haken und ein kleines Fragezeichen dahinter.

Willy Gubler war wohl einer der Bauern, die die Nase am deutlichsten rümpfte über Bio-Ruedi, denn er setzte wie kaum einer auf konventionelle Landwirtschaft mit den Schwerpunkten Fleisch und Milch. Er könne dann ein ganz ekliger Cheib sein, erzählte eine Frau vom Auereried. Ihre Kinder hätten am Dienstag auf dem Sportplatz bei der Mehrzweckhalle gespielt. Als sie um 18 Uhr nicht zum Abendessen heimgekommen seien, sei sie sie suchen gegangen. Sie habe sie schliesslich mit einer ganzen Kindermeute beim Hubelhof droben gesehen und, als sie dazu gekommen sei, gehört, wie Gubler den Melkmaschinen-Techniker zusammengeschissen habe, weil die Maschine nicht funktionierte und die Kühe seit einer Stunde mit vollen Eutern ihren Schmerz mit zunehmender Lautstärke übers Dorf brüllten. Plötzlich hatte sich Gublers Wut auch auf die Gaffer entladen, und er hatte sie angefahren, sie sollten sich schleunigst vom Hof scheren. Vom Gartenplatz aus hatte die Familie während des Abendessens die Szenerie beobachtet, und erst kurz vor 20 Uhr war Ruhe eingekehrt, Gubler habe sich in seinen BMW geschwungen und sei mit aufheulendem Motor Richtung Dorf gerast. Jeger setzte einen Haken hinter "Wismer".

Keine Emotionen weckte hingegen Schulleiter Hans Friedrich. Er galt als Tröchni, als einer, der sich schwer tat mit der "heutigen Jugend" und der die baldige Pensionierung herbei sehnte. Eltern interessierten sich lediglich dafür, wer neuer Schulleiter werden würde, ob einer der bisherigen Lehrkräfte das übernehmen könnte und wer in Zukunft die fünfte und sechste Klasse übernehmen würde. Man erwartete demnächst Neuigkeiten darüber, denn am Dienstag sei der Schulinspektor da gewesen, er sei nach der Schule mit dem Lehrkörper und der Schulkommissionspräsidentin zusammengesessen und danach offenbar zum Znacht bei Friedrichs geblieben, denn sein Auto sei auch noch kurz vor 20 Uhr dort gestanden, und danach hatte man Friedrich beim Gemeindehaus aus des Inspektors Wagen steigen sehen. Auch "Friedrich" erhielt auf Jegers Notizzettel einen Haken.

Nach kurzer Pause, während der sich die "Büro"-Mitglieder das Gesagte durch den Kopf gehen liessen und ihre Notizen vervollständigten, meldete sich Untersuchungsrichterin Aellen: "Was wissen wir denn nun über Elsbeth Widmers Vergangenheit?" Eveline Jutzi kramte in ihren Papieren, räusperte sich und begann: "Da gibt es ein paar ganz interessante Dinge zu berichten."

Die Publikumsfrage am Ende des vierten Kapitels hatte gelautet: Was weiss Jutzi über E. Widmers Vergangenheit zu berichten?

Antwort: Elsbeth Widmer hat eine bewegte Karriere als Drogenprostituierte hinter sich.

 
   
  Kapitel 5:  Schatten der Vergangenheit

Eveline Jutzi begann ihren Bericht über Elsbeth Widmers Vergangenheit mit der Ankündigung: "Da ist alles zu finden, was den Fall für die Boulevard-Presse so richtig saftig macht: unbekannter Vater, Drogen, Prostitution und was weiss ich was noch alles."

Elsbeths Mutter hatte ein unstetes Leben geführt: Sie hatte überall in der Schweiz gejobbt, ein Jahr da, ein paar Monate dort, meist im Gastgewerbe. Erst nach Elsbeths Geburt war sie ein bisschen sesshafter geworden. Verheiratet hatte sie sich erst vor ein paar Jahren. Sie wohnte jetzt zusammen mit ihrem Mann in Bern, hiess nun Frau Schüpbach, servierte aushilfsweise und bediente stundenweise in der RailCity die Kasse eines Grossverteilers. Elsbeth hatte noch eine jüngere Schwester, zu beiden Töchtern war in den Personenakten kein Erzeuger vermerkt. Elsbeth war 1972 in Bern zur Welt gekommen. Hier sah Jutzi von ihren Papieren auf: "Ratet mal, woher Frau Widmer kurz vor Elsbeths Geburt nach Bern gezogen ist: aus Bachwilen! Sie hatte im Auerhof während der Sommersaison serviert."

Noch bevor Elsbeth schulpflichtig war, zog sie zuerst nach Winterthur, dann nach St. Gallen, wo Elsbeths Schwester zur Welt kam, und dann nach Zürich. Dort beendete Elsbeth die Schulpflicht, offenbar unauffällig, und begann eine KV-Lehre. Gegen Ende der Lehre tauchten Schwierigkeiten auf, die - laut Lehrmeister - damit zu tun gehabt haben sollen, dass Elsbeth zu "giften" angefangen habe. Sie schaffte den Lehrabschluss auf dem letzten Zacken - "und hier beginnt ein mehrjähriger weisser Fleck im Lebenslauf von Elsbeth Widmer", wie sich Eveline Jutzi ausdrückte. Sie soll von einem Trip nach Indien gesprochen haben, aber man wisse darüber nichts Konkretes. Gemeldet blieb sie unter der Adresse ihrer Mutter.

"Das nächste, was wir wissen, ist, dass sie Ende 1998 in Zürich eine Stelle antrat. Es gibt Rapporte, wonach sie einige Male auf dem Lettenareal kontrolliert worden ist. Sie hatte aber immer einen festen Wohnsitz, zuerst bei ihrer Mutter, danach in einer WG, und sie scheint keinen verwahrlosten Eindruck gemacht zu haben. Zwei Jahre später hat sie freiwillig eine Therapie in einer Institution im Zürcher Oberland gemacht. Danach zog sie zusammen mit ihrer Schwester Ruth nach Bern. Elsbeth arbeitete, und ihr Name ist nur im Zusammenhang mit Ruth, die mehrfach im Kocher-Park aufgegriffen worden ist, aktenkundig. Ende 2001 setzte sich Ruth den goldenen Schuss. Das war vermutlich der Auslöser für Elsbeths totalen Absturz: Sie gab ihre Arbeit auf, und die Sitte zählte sie ab diesem Zeitpunkt zu den Drogenprostituierten."

Elsbeth schien aber von zäher Natur gewesen zu sein: Abermals rappelte sie sich auf und trat aus eigenem Antrieb in eine Entziehungs- und Therapiestation ein. Dort lernte sie offenbar Stefan Trachsel kennen. Unmittelbar danach wurde ihr die Stelle im regionalen Sozialdienst in Markingen vermittelt, und das Paar zog im Herbst 2002 nach Bachwilen.

Die Leute in der Runde hatten aufmerksam zugehört und sich Notizen gemacht. Nach einer kurzen Pause wollte Bernhard Jeger wissen, ob Elsbeths Mutter nach ihrer Bachwiler Zeit befragt worden sei. Jutzi wühlte in ihren Unterlagen und gab Auskunft: "Das Gespräch mit Frau Schüpbach hat Sämu Josi geführt; es ging in erster Linie darum, ihr die traurige Nachricht zu überbringen. Natürlich hat er nach ihrem Kontakt gefragt. Der beschränkte sich offenbar auf ein Telefon hie und da, vielleicht zweimal pro Jahr hat man sich gesehen. Der letzte Kontakt war einige Wochen her, die beiden scheinen sich nicht sehr nahe gestanden zu sein." Josi hatte nicht insistiert, als Frau Schüpbach Elsbeths Vater als verstorben angab, umso mehr als dass er die Informationen, die ihnen heute vorlägen, damals noch gar nicht gehabt habe.

Jeger kratzte sich mit dem Bleistift hinter dem Ohr: "Es kann ja wohl kein Zufall sein, dass Elsbeth im gleichen Dorf umgebracht wurde, wo sie mutmasslich gezeugt worden ist. Ich werde mit Frau Schüpbach noch mal sprechen müssen. Wo setzen wir sonst noch an?"

Nachdenklich meinte Untersuchungsrichterin Aellen: "Ich frage mich, ob der Tod dieser Schwester einen Zusammenhang mit unserem Fall hat. Wir müssen versuchen, mehr darüber zu erfahren. Dann ist da noch die Sache mit der Agriholding AG und deren Verwaltungsrat Schäubi. Sind wir da weiter?" Kopfschütteln reihum. Jeger schloss die Sitzung mit der Bemerkung: "Auch dem Trachsel müssen wir noch mal auf den Zahn fühlen. Immerhin ist er ein Bekannter aus Elsbeth Widmers wilden Zeit, dann hat er kein Alibi, handelt vermutlich mit illegalen Produkten - wer weiss, was da alles zum Vorschein kommt, wenn wir tiefer graben."

Jeger nahm Sämu Josi mit zum Besuch bei Frau Schüpbach. Ein bereits bekanntes Gesicht war oft viel wert, und im Gegensatz zu Jeger, der eher der distanzierte Typ war, konnte es Josi gut mit den Leuten. Mit seinem Walrossschnurrbart und den Lachfalten in den Augenwinkeln flösste er den Leuten Vertrauen ein.

Jeger hatte sich Frau Schüpbach aufgrund ihres Lebenslaufes anders vorgestellt, verbrauchter, abgestumpft: Es empfing sie aber eine adrette Erscheinung mit wachen Augen, und Jeger dachte bei sich, sie habe wohl genau das Leben geführt, das sie führen wollte: unabhängig und ein bisschen abenteuerlich. Als sie sich mit einer Tasse Kaffee um den Küchentisch gesetzt hatten, lenkte er das Gespräch zunächst auf den weissen Fleck in Elsbeths Curriculum vitae. Die Antworten waren nicht sehr hilfreich: Frau Schüpbach hatte in dieser Zeit in unregelmässigen Abständen Ansichtskarten von ihrer Tochter erhalten, aus der ganzen Welt und mit nicht viel mehr als "es geht mir gut, freundliche Grüsse". Auch nach ihrer Rückkehr hatte sie nie einen umfassenden Bericht der vergangenen Jahre erhalten, sie hatte wohl auch nicht darauf bestanden. Brockenweise hatte sie von Aufenthalten auf einem französischen Weingut, von einem Trip in Afrika und im Tibet, von Begegnungen mit Aborigines und von Ähnlichem erfahren.

Was die Ermittler mehr interessierte, war Frau Schüpbachs Zeit in Bachwilen und natürlich, wer der Vater von Elsbeth sei. Zunächst erfuhren sie nur Belangloses. Auf die Frage nach der Vaterschaft ernteten sie bei mehreren Anläufen nur ein "ich weiss es nicht". Auch auf die Frage, ob es dieser oder jener gewesen sein könnte - Jeger bediente sich dabei der Liste der ihm bekannten alteingesessen Bachwiler - blieb sie dabei. "Heisst das konkret, dass sie diesen und jenen nicht ausschliessen können?"

Frau Schüpbach setzte mehrmals zum Sprechen an, bis sie schliesslich zu erzählen begann: "Ich war damals jung und dumm, fühlte mich im Auerhof verlocht und einsam. Eines Samstag abends liefen die Bachwiler Schmalspurrocker mit ihren Töffli im Auerhof ein. Um es kurz zu machen: Sie füllten mich ab, und irgendwann wusste ich nicht mehr genau, was passierte. Jedenfalls lag ich nackt in meinem Bett, als ich anderntags mit schwerem Kopf erwachte. Einige Wochen später wusste ich: Ich war schwanger. Es konnte nur in dieser Nacht geschehen sein, ich hatte mich sonst mit niemandem eingelassen - jedenfalls nicht ohne Vorkehrungen. Als dieselbe Gruppe mit Wortführer Schorsch Schäubi es noch einmal bei mir versuchte, habe ich es ihnen angedeutet: Es werde Folgen haben. Schorsch lachte mich aus. ‚Eine solche wie ich' soll das Maul halten, anderorts würde ich für ‚so etwas' gesteinigt. Ich glaube, es war den meisten nicht so recht wohl bei der Sache, sie sind jedenfalls kaum mehr im Auerhof aufgetaucht. Immerhin erhielt ich einige Tage später einen Umschlag mit einer Tausendernote und der Adresse eines Arztes in Burgdorf, drunter ein einziges Wort: ‚Verschwinde!', was ich dann auch bald danach tat." Sie sei dann auch zu dem Arzt gefahren. Im Warteraum habe sie das Gefühl gehabt, alle würden sie wissend und missbilligend anschauen, und sie habe Reissaus genommen.

Eine Weile lang blieb es still, nur Josis Laptop, auf dem er diesen Bericht protokolliert hatte, sirrte leise vor sich hin. Die Nachfrage ergab, dass sich Frau Schüpbach an die Namen nur zweier Mitläufer erinnern konnte: Helmut Wismer und Willy Gubler. Nein, sie habe das Elsbeth nie erzählt, sie habe immer abgelenkt und von einem verstorbenen Freund gesprochen. Aber Ruth, Elsbeths Schwester, der sie näher gestanden hatte, habe sie es berichtet. Sie wisse nicht, ob Elsbeth je davon erfahren habe.

Jeger und Josi blieben stumm, als sie ins Präsidium zurückfuhren. Einerseits berührte sie das Schicksal von Frau Schüpbach und ihren beiden Töchtern, andererseits suchte jeder für sich, die Fäden dieser Schicksale miteinander zu verknüpfen. Die Nachricht, die sie im Büro erwartete, riss sie aus ihren Gedanken: Ein Zeuge hatte Licht auf ein mögliches Motiv geworfen.

Das Publikum hat entschieden: Der Zeuge sagt aus, dass Elsbeths Schwester Zugang zum Medi-Schrank des Bachwiler Alters- und Leichtpflegeheim hatte.

 
  Kapitel 6 und Ende:  Seltsame Beziehungen

Eveline Jutzi hatte den Ermittlungsstrang koordiniert, der sich mit Elsbeths Schwester Ruth beschäftigte. Dabei tauchte Michael "Junkie-Mike" Bucher auf, der Ruth nahe gestanden hatte oder ihr wenigstens gerne näher gestanden wäre. Als Jeger und Josi ins Präsidium zurück kamen, erwartete Eveline Jutzi sie: "Hört euch Michaels Geschichte selber an."

Michael hatte sich entspannt und genüsslich in den Stuhl geflegelt, so weit das Standard-Vernehmungszimmer-Möbel dies erlaubte. Es schien ihm nichts auszumachen, seine Aussage zu wiederholen. "Ich stand auf Ruth. Stundenlang lag ich ihr in den Ohren, sie soll mit mir wegziehen, auf eine einsame Insel oder so, alles hinter sich lassen, ein neues Leben beginnen. Aber irgendwie schien sie verhangen zu sein mit der Vergangenheit, lebte sozusagen immer mit einem Blick über die Schulter zurück. Wahrscheinlich lag es an diesem Typen, der sie häufig besuchte, eine Art Vaterfigur mit Helfersyndrom. Seinen Namen habe ich nie erfahren, sie hat ihn nur ‚meinen Pfleger' genannt. Die beiden waren auf eigenartige Weise ineinander verhakt: Einerseits kümmerte er sich um sie und schien sehr an ihr zu hängen, andererseits schien er darauf bedacht, sie in ihrem bedürftigen Zustand zu belassen. Ruth ihrerseits genoss seine Fürsorge, war sich aber bewusst, dass diese Beziehung eine Sackgasse war. So klebten sie in gegenseitiger Abhängigkeit aneinander und wussten doch, dass sie nicht gut füreinander waren. Dann muss irgendetwas passiert sein: Eines Tages tauchte sie im Kocher-Park auf, mit aufgerissenen leeren Augen. Sie brachte kaum ein Wort hervor. Am gleichen Tag setzte sie sich den goldenen Schuss."

Eveline Jutzi forderte Michael auf, vom "Albtraum" zu erzählen. "Ja," fuhr er fort, "wenn einmal der Stoff knapp, schlecht oder teuer war, dann griff Ruth auf das zurück, was sie ihren ‚Albtraum' nannte: Rohypnol. Sie hat mir davon das eine oder andere Mal auch etwas abgegeben, und dabei habe ich gesehen, woher die Bezeichnung - abgesehen davon, dass Rohypnol ein starkes Schlafmittel ist - kam: Auf der Etikette waren die Grossbuchstaben ‚ALB' und kleiner darunter ‚Alters- und Leichtpflegeheim Bachwilen' aufgedruckt."

"Hoppla", dachte sich Jeger. Er liess den Zeugen das Protokoll unterzeichnen und entliess ihn. Auf der Türschwelle drehte sich Michael noch einmal um: "Ach, übrigens ist Bachwilen noch in einem anderen Zusammenhang aufgetaucht: Vor einigen Wochen traf ich einen alten Kollegen von mir, der jetzt mich Holzspielsachen und Anderem" - hier zwinkerte er - "die Märkte abklappert. Der hat mir erzählt, er wohne jetzt in Bachwilen. Dem habe ich auch gesagt, dass ich Bachwilen schon auf Rohypnol-Packungen gelesen habe. Zunächst war er wenig interessiert, aber als ich dann kurz von Ruth erzählte, hat er mich nach ihrem Familiennamen gefragt. Als ich ‚Widmer' sagte, schien ihn das zu erregen, und er wollte mehr darüber erfahren. Aber eigentlich hatte ich ja nichts mehr beizufügen."

Jeger reagierte auf diese Worte mit wachsendem Interesse. Nur um sicher zu sein, erkundigte er sich nach dem Namen dieses Bekannten. "Stiefi Trachsel heisst er." Michael musste noch einmal Platz nehmen und die zusätzliche Aussage unterschreiben. Als er die Ermittler danach verlassen hatte, lehnte sich Jeger zurück, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und sagte: "Jetzt wird uns Felix Stauffer, seines Zeichens Gemeindepräsident von Bachwilen und Pflegedienstleiter im ALB, Einiges erzählen müssen", und stellte die Vorladung aus.

Felix Stauffer hatte dunkle Ringe unter den Augen, als er anderntags ins Vernehmungszimmer geführt wurde. Er machte eher einen resignierten als einen unruhigen Eindruck. Auf die Eingangsfrage, ob er etwas von sich aus zu sagen habe, schüttelte er müde den Kopf. Jeger schätze Stauffers Widerstandskraft als gering ein und entschloss sich für die direkte, harte Variante: "Erzählen Sie uns etwas über Ihr Verhältnis zum Drogenmädchen Ruth."

Stauffer schien zunächst eine ausweichende Antwort geben zu wollen, doch dann holte er tief Atem und begann: "Ich will gar nichts beschönigen: Seit ich Pflegedienstleiter und noch dazu Gemeindepräsident bin, fühle ich mich überfordert. Vielleicht wäre ich an den Aufgaben erstarkt und gewachsen, wenn ich in meiner Frau einen Rückhalt gefunden hätte - aber das ist nun mal nicht so, im Gegenteil: Sie fühlt sich vernachlässigt und setzt mich in ihrer unnachahmlichen Weise zusätzlich unter Druck. Ich kämpfte mit Suizid-Fantasien, und irgendeinmal habe ich mir gesagt: Ich kann nicht mehr verlieren als ein Leben, das ich nicht leben mag. Also kann ich mich gerade so gut über alle moralischen Schranken hinwegsetzen. Schon immer hatten mich Prostituierte und Drogen fasziniert, und so begann ich, den Kocher-Park zu besuchen und diese Atmosphäre in mich aufzusaugen. Dort lernte ich Ruth kennen, und es entstand eine Beziehung zwischen zwei Menschen, die sich verloren fühlten und die Halt aneinander suchten. Mir war klar, dass ich sie verlieren würde, wenn sie aus diesem Milieu ausbrechen würde, und ich ermutigte sie nicht gerade dazu. Wenn sie knapp an Stoff war, half ich ihr aus unserem Medikamentenschrank aus, denn Geld konnte ich ihr nur in beschränktem Mass geben. Dann passierte etwas Katastrophales: Jemand muss mich gesehen und erkannt haben, und eines Tages sprach mich Schorsch Schäubi mit lüsternem Grinsen darauf an. Es war nicht so, dass er mich gerade heraus erpresste, aber sein Anliegen, ich möchte ihm doch mein Drogenmädchen vorstellen, formulierte er ultimativ, und ich hatte nicht das Rückgrat, mich ihm zu widersetzen. Gemeinsam fuhren wir nach Bern, und er sagte so etwas wie: ‚Ruth und ich gehen jetzt zusammen in ein Hotel, und dann vergessen wir das Ganze'. Sie schaute mich mit grossen Augen an - ich vergesse den Blick der im Stich Gelassenen nie mehr. Ich hasse mich für meine Schwäche." Stauffers Stimme brach, und er blieb minutenlang still. Auf Jegers "Und dann?" berichtete er in knappen Worten, am nächsten Tag habe sich Ruth umgebracht.

War Schäubi schon vorher das Alfatier im Gemeinderat gewesen, verhielt er sich daraufhin Stauffer gegenüber noch ungenierter. Stauffer erhielt nun unverhohlen die Anweisung, sich als Gemeindepräsident dafür einzusetzen, dass die Landkäufe von Schäubis Briefkastenfirma reibungslos über die Bühne gingen. Nach wie vor war eine eigentliche Erpressung nicht nötig, nur ab und zu ein joviales Schulterklopfen und ein wissendes Zwinkern. Er, Stauffer, habe keinen Widerstand geleistet. Er lebte in einem schlafwandlerischen Zustand verdrängten Schuldbewusstseins.

Ob er denn damals Ruths Schwester kennen gelernt habe? "Nein, Ruth hat mir zwar von ihr erzählt, aber gesehen habe ich sie nie." Als Elsbeth Widmer in Bachwilen aufgetaucht sei, habe er nicht den geringsten Schimmer gehabt, dass es sich dabei um Ruths ältere Schwester gehandelt habe. Dann, während der letzten Gemeinderatssitzung, sei sie merkwürdig reserviert gewesen ihm gegenüber. Als es um einen Sozialfall, einen Junkie, gegangen sei, habe sie eine Bemerkung gemacht wie "Einige von euch haben sicher schon Einblick gehabt ins Leben von Abhängigen, oder?", und dabei habe sie ihm direkt und hart in die Augen geblickt, dass es ihm gschmuech geworden sei. Und später am gleichen Abend habe sie, als es um eine unbewilligte Umnutzung und eine Wiederherstellungsverfügung gegangen sei, gemeint: "Irgendeinmal muss jeder die Konsequenzen für sein Handeln tragen" und eigentümlich vor sich hin gelächelt. "Erst da ist mir aufgefallen, dass Elsbeth den gleichen Familiennamen trug wie Ruth. Als Gemeindepräsident kenne ich Mittel und Wege, Personendaten einzusehen, und so habe ich meinen Verdacht bestätigt gefunden. In meiner Not habe ich mich Schäubi anvertraut, aber der war nicht sonderlich beunruhigt. Erst als ich beiläufig auch den Namen von Elsbeths Mutter erwähnte, wurde er plötzlich aufmerksam und fragte nach Elsbeths Geburtsdatum. Danach war er zunächst still, meinte aber dann, ich solle nicht so ein Gschiess machen, das werde sich schon geben, schliesslich: Was könne denn schon schlimmstenfalls passieren?"

Aber am späten Morgen des Tages, an dem Frau Widmer umkam, rief Schäubi Felix Stauffer an und bestellte ihn in ein ruhiges Lokal in Markingen. Schorsch war ziemlich aus dem Häuschen: Er berichtete, dass einer der verarmten Bauern, deren Land er sich unter den Nagel gerissen hatte und der nun Sozialhilfe bezog, Elsbeth offenbar sein Schicksal geklagt habe. Der wusste natürlich nichts Genaues, aber Elsbeth habe die Briefkastenfirma mit Briefen bombardiert und Auskunft über deren Geschäftsgebaren verlangt. Natürlich habe ihr niemand geantwortet, aber als er sie heute Morgen bei der Postautostation getroffen habe und ihr leutselig zugerufen habe "Da ist ja unsere schöne Gemeinderätin", habe sie ihn angelächelt und gesagt: "Nach der Gemeinderatssitzung heute Abend wird dir wohl das Lachen vergangen sein!" Schäubi und Stauffer würden unter die Räder kommen, wenn Elsbeth alles, was sie wüsste und dazu das, was sie ahnte, unter die Leute bringen würde. Jetzt müssten sie zusammenstehen wie ein Mann und handeln. Er wisse auch schon wie. Stauffer soll heute Abend eine halbe Stunde früher als üblich das Haus Richtung Gemeindeverwaltung verlassen. Er, Schäubi, werde ihn treffen, und dann würden sie die Sache gemeinsam regeln. Stauffer habe sich vorgestellt, sie würden Elsbeth Widmer zu Hause heimsuchen und mit ihr sprechen, aber Schäubi habe den Geschäftswagen, den er vorsorglich bei einer seiner Baustellen im Riedwegquartier geparkt hatte und den sie bestiegen hatten, an der Bachweg-Einmündung vorbei gelenkt und sei Richtung Auerhof gefahren. Etwas weiter oben hätte er den Wagen halb im Wald versteckt. Schäubi habe einfach gesagt: "Komm, pack mit an!" und sie hätten einen Fichtenstamm zum Bachweg runter durch den Wald geschleppt. Er habe sich zunächst nicht vorstellen können, was das werden soll, aber Schäubi habe gesagt, er werde dann schon sehen, die Widmer müsse jetzt zuerst ins Spital gebracht werden, dann hätten sie Zeit gewonnen und könnten überlegen, was weiter zu tun sei, brachte Stauffer stockend hervor. "Den Rest wissen Sie ja."