Kapitel 1:  Eine denkwürdige Gemeinderatssitzung
Die Abenddämmerung des strahlenden Herbsttages kroch das Auerental herauf nach Bachwilen. Gemeindeschreiber Graf schloss die Türe zum Sitzungszimmer auf und machte sich daran, die Unterlagen für die bevorstehende Gemeinderatssitzung bereitzulegen. Er genoss diese ruhige Zeit zwischen den oft aufreibenden Schalteröffnungszeiten und den Sitzungen, die zwar meist recht friedlich, doch manchmal bemühend wortreich abliefen, und liess seine Gedanken von einem Mitglied des Kollegiums zum nächsten schweifen, als er die Papiere auf die fest zugeordneten Plätze legte.

Den grössten Stoss erhielt naturgemäss Gemeindepräsident Stauffer. Felix Stauffer, Pflegedienstleiter im ALB - dem Alters- und Leichtpflegeheim Bachwilen - war integer, fleissig, freundlich - und stand in jeder Beziehung unter der Fuchtel: Im ALB unter der von Käthi Beutler, der resoluten Heimleiterin, daheim war seine Frau Mathilde die Chefin, wenn auch nicht auf die herrische Art, sondern sehr subtil und mindestens so wirkungsvoll durch Gewähren und Verweigern von Zuneigung; und schliesslich hier im Gemeinderat: Der Spruch von Schorsch Schäubi "Mir ist egal, wer unter mir Gemeindepräsident ist" und vor allem die Schamlosigkeit, mit der er damit um sich warf, sagte alles. Trotzdem: Felix tat sein Bestes, und hin und wieder rang er sich zu einer echt eigenständigen Meinung durch.

Und dann eben besagter Schorsch Schäubi. Seit urdenklichen Zeiten im Gemeinderat, nur unterbrochen durch kurze Pausen, die ihm die Amtszeitbeschränkung auferlegte, war er das, was man als Dorfkönig bezeichnete. Schäubis waren eine der "einheimischen" Familien und seit Menschengedenken im Besitz des Betriebes an der Aueren, ursprünglich eine Sägerei. Sie hatte, zusammen mit den ausgedehnten Wäldern im Osten an den Flanken der Auerenfluh, schon früh zu einem gewissen Wohlstand im Dorf beigetragen. Die Nutzung der Wasserkraft und das Sägen waren inzwischen aufgegeben worden, aber Schäubis verstanden es geschickt, als "Holzige" - Schorsch war Zimmermeister - das einheimische Baugewerbe zu dominieren. Denn die älteren Häuser im Dorf waren Riegbauten und die ersten Neubauten Chalets, als die Ansiedlung eines Lebensmittelverarbeiters der Migros in Markingen im Tal drunten Bachwilen einen kleinen Wachstumsschub bescherte. Schorsch wurde selten laut. Er hatte das auch nicht nötig. Seine tragende, tiefe Stimme, die an der stämmigen, aber bierbauchlosen Gestalt einen üppigen Resonanzkörper hatte, zeugte von der Gelassenheit des Mächtigen und davon, dass er wusste, was gut für die Bachwiler war.

Am Gemeinderat und Elektriker Helmut Wismer zeigten sich exemplarisch dörfliche Abhängigkeiten: Sein Geschäft für Haushaltgeräte lief nicht besonders. Viele Bachwiler kauften ihre Waschmaschinen und Kühlschränke beim Dipl. Ing. im Amtshauptort Grafenstadt, und so war Wismer auf jeden Auftrag angewiesen, bis hin zur Wartung der öffentlichen Beleuchtung und der Beschallung der Mehrzweckhalle bei den Lottos der Dorfvereine. Und natürlich auf die in letzter Zeit eher rar gewordenen Neubauten, sonst hätte Wismer einen Büetzer entlassen müssen oder keinen Stift mehr annehmen können, was bedeutet hätte, dass er wieder hätte Werkzeug in die Hand nehmen müssen, und das lag ihm nicht. Lieber hätte er selber die Rolle des Dorfkönigs übernommen. Zuweilen stiess ihm sauer und schmerzlich die Erkenntnis auf, welcher Duckmäuser er doch geworden war. Er kompensierte dies notdürftig durch einen für Dorfverhältnisse unüblich gepflegten Outfit - und in letzter Zeit immer mehr durch ausgedehnte abendliche Besuche im Rössli, wo er sich nach etlichen spendierten Runden ein bisschen wie ein Dorfkönig vorkommen durfte. Aber der Kater folgte jeweils prompt.

Die Exotin im Kollegium war zweifellos Elsbeth Widmer, nicht nur, weil sie hier die einzige Frau war. Sie lebte mit Stefan "Stiefi" Trachsel zusammen im Bedli im Auerengraben hinten, einem früheren Bad, wie es in der Gegend viele gegeben hatte. Einzige Voraussetzungen für solche Etablissements waren Wasser, Holz und verschwiegene Lage gewesen, wo sich Herren und "Damen" zum Baden in grossen, geheizten Bottichen zu treffen pflegten. Dann, als die Blütezeit solcher Häuser vorbei war, blieb das Bedli, zunehmend verlotternd, den Süffeln von schwarzgebranntem Härdöpfeler vorbehalten. Wirtschaftsaufschwung und Denners Spirituosenpreise machten auch dieser Karriere ein Ende, und das Bedli blieb einige Zeit leer, bevor Stiefi dort einzog, das Hauptgebäude notdürftig bewohnbar machte und eine kleine Produktion aufbaute für Holzspielwaren, die er in Grafenstadt und Bern auf dem Märit zu verkaufen versuchte. Mit dem Einkommen, das Elsbeth mit ihrem Teilzeitjob als Sekretariatsangestellte beim regionalen Sozialdienst in Markingen verdiente, reichte es für ein bescheidenes Leben. Mag sein, dass die Konfektionierung der mannshohen Stauden, die man verteilt an schlecht zugänglichen Börtern und Waldrändern fand, einen nicht unerheblichen Anteil am Einkommen - und dazu noch unversteuert - ausmachte. Wie Elsbeth in den Gemeinderat gekommen ist? Das war so: Elsbeth und Stiefi, politisch zwar interessiert, aber mit den lokalen Gegebenheiten noch nicht so vertraut, wollten wenigstens einmal im Leben an einer Gemeindeversammlung teilnehmen. Zwar musste ein Gemeinderatssitz neu besetzt werden, aber am gleichen Abend stand eben auch ein WM-Ausscheidungsspiel der Fussball-Nati auf dem Programm, das durch die spezielle Tabellensituation plötzlich wegweisende Bedeutung erhalten hatte. Die one and only Ortspartei hatte Aschi Schnegg, Automech in Bühlers Garage und eigentlich nur daran interessiert, in Motorblöcken zu wühlen, zur Kandidatur überredet. Er und seine Promotoren fanden es nicht für nötig, an der Gemeindeversammlung teilzunehmen, durfte man doch annehmen, dass die Wahl eine Formalität sein würde. So kam es, dass Stiefi bei der Nachfrage des Sitzungsleiters, ob die Vorschläge vermehrt würden, Elsbeth mit dem Ellenbogen anstiess und sie fragte, ob sie nicht wolle. Sie zog eigentlich nur die Augenbrauen hoch, aber Stiefi meldete sich und improvisierte eine Rede von wegen Vertretung der jungen Generation und so. Weil wegen des Fussballmatches sowieso nur wenige und aufgrund einer Vorlage über den Vertrag mit der Markinger Jugendarbeitsstelle fast nur gemeindeversammlungs-atypische Bürgerinnen und Bürger anwesend waren, wurde Elsbeth gewählt.

Auch nicht ganz der Norm entsprach Ruedi Hofmann, war er doch der bisher einzige Bauer der Gemeinde, der auf Bio umgestellt hatte. Dass er zur Wahl vorgeschlagen worden war, hatte er der Lage seines Hofes zu verdanken: Auf der Geländeterrasse Richtung Nettigkofen, dem Nettiger Feld, gelegen, gewährte er schon seit langem der Hornusser Gesellschaft Gastrecht. Schon als Giel hatte sich Ruedi am Abschlag versucht, und mittlerweile, mit Mitte dreissig und voll im Saft, war er der beste Schläger und als solcher geradezu prädestiniert zum Gemeinderat. Er war ein ruhiger, besonnener Mensch, der sich nicht beirren und von seiner Meinung abbringen liess und die unvermeidlichen Niederlage mit derselben Ruhe hinnahm, wie er sich auf einen Abschlag vorbereitete. Die Bachwiler Bauern hatten ihm Misserfolg mit dem Biozeugs prophezeit - und neideten ihm jetzt den Erfolg, redeten sich damit heraus, dass nur die Lage dafür verantwortlich sei, denn das Nettiger Feld schloss an die neuen Quartiere an mit den Pendlern und jungen Familien, und Hofmanns Direktverkaufs-Kiosk war über einen gäbigen Feldweg der Weide mit den schottischen Urviechern, den zwei Eseln, den freilaufenden Hühnern und Schweinen entlang erreichbar - Einkauf und Hunde- oder Kinderspaziergang waren damit ideal und attraktiv miteinander zu verbinden.

Wie üblich im Kanton Bern waren die Bauern auch im Bachwiler Gemeinderat übervertreten: Der zweite Landwirt war der Hubelbauer Willy Gubler. Ihm hätte es eigentlich gut gehen müssen, denn sein Vater hatte noch vor der Raumplanungsära im Auerenried Land verkaufen können, als der erste Einfamilienhaus-Boom einsetzte. Leidenschaftlicher Landwirt, der er war, hatte er den Ertrag grösstenteils in die Modernisierung und Mechanisierung des Hofes gesteckt. Sohn Willy konnte später für die Häuser am Friedhofweg auch einen schönen Schübel einstecken, aber die kostspielige und luxuriöse Sanierung des Wohnteils, ein 7er BMW, die Sorglosigkeit der Jungmannschaft im Umgang mit Geld und die Entwicklung des Milchpreises brachten mit sich, dass Willy nun zu einem der begabtesten Kläger über GATT, WTO, die im Amtssitz Grafenstadt, in Bern und Brüssel geworden war. Trotzdem: Dank des stattlichen Ausmasses des Hofes und weil keine Investitionen nachgeholt werden mussten, war ihm die Härte wirklicher existentieller Bedrohung eigentlich fremd.

Niemand hatte sich getraut, Schulleiter Hans Friedrich nicht zu wählen, als er von einer Elterngruppe vorgeschlagen worden war. Nicht dass er unbeliebt war, aber den typischen Gemeindeversammlungsgängerinnen und -gängern waren das, was sie "Intellektuelle" nannten, eher suspekt. Er war tatsächlich so etwas wie das Gewissen des Gemeinderats geworden, weniger in ethischer als in juristischer Hinsicht, denn niemand - natürlich abgesehen vom Gemeindeschreiber - war in Sachen Gesetzen und Reglementen so sattelfest wie er. Gerade damit stiess er hin und wieder auf Widerstand. Es wurde ihm Formalismus vorgeworfen, wenn er auf der Durchsetzung der Bestimmungen beharrte, ja sogar Beschwerden beim Regierungsstatthalter androhte. Man hätte sich gerne nach den eigenen Bedürfnissen über das, was die in Bern meinten, hinweggesetzt. War Friedrich in der ersten Zeit unnachgiebig - natürlich nannte Schorsch das "stur" -, so verlor er, je näher seine Pensionierung kam, langsam Lust und Kraft zu kämpfen. Das Hickhack um die Mehrzweckhalle hatte ihn erschöpft. Auch wenn er sich zuletzt als Sieger bezeichnen durfte, war ihm bewusst, dass die Umstellung auf das neue Schulmodell und damit die Tatsache, dass die älteren Schüler nun ins Oberstufenzentrum in Markingen mussten, letztlich ausschlaggebend gewesen war. So fiel der Plan, eine neue Schulanlage auf der grünen Wiese zu bauen, ins Wasser. Statt dessen wurde, wie es Friedrich schon immer angestrebt hatte, das Hubelschulhaus saniert, gegenüber eine Mehrzweckhalle gebaut und im neuen Dorteil ein weiterer Kindergarten eröffnet.

Es war dunkel geworden im Sitzungszimmer. Graf hatte die Unterlagen bereit gelegt, geprüft, ob die Birne des Overhead-Projektors nicht schon wieder das Zeitliche gesegnet hatte, und Mineralwasser auf den Tisch gestellt. Die Gemeinderatsmitglieder trafen nach und nach ein, steckten noch die Köpfe zusammen, um das eine oder andere vorzubesprechen. Noch war das Kollegium nicht komplett, als das Telefon läutete. Graf nahm stirnrunzelnd den Hörer ab. Die Anwesenden wurden leise und verstummten, als Graf die Hand langsam hob und sich in seinem Gesicht Betroffenheit abzeichnete. Er legte im Zeitlupentempo auf und sagte mit ihm selber fremder Stimme: "Unser/e Kollege/in ist soeben tot aufgefunden worden."