Die Abenddämmerung des strahlenden Herbsttages
kroch das Auerental herauf nach Bachwilen. Gemeindeschreiber
Graf schloss die Türe zum Sitzungszimmer auf und machte
sich daran, die Unterlagen für die bevorstehende Gemeinderatssitzung
bereitzulegen. Er genoss diese ruhige Zeit zwischen den oft
aufreibenden Schalteröffnungszeiten und den Sitzungen,
die zwar meist recht friedlich, doch manchmal bemühend
wortreich abliefen, und liess seine Gedanken von einem Mitglied
des Kollegiums zum nächsten schweifen, als er die Papiere
auf die fest zugeordneten Plätze legte.
Den grössten Stoss erhielt naturgemäss Gemeindepräsident
Stauffer. Felix Stauffer, Pflegedienstleiter im ALB - dem
Alters- und Leichtpflegeheim Bachwilen - war integer, fleissig,
freundlich - und stand in jeder Beziehung unter der Fuchtel:
Im ALB unter der von Käthi Beutler, der resoluten Heimleiterin,
daheim war seine Frau Mathilde die Chefin, wenn auch nicht
auf die herrische Art, sondern sehr subtil und mindestens
so wirkungsvoll durch Gewähren und Verweigern von Zuneigung;
und schliesslich hier im Gemeinderat: Der Spruch von Schorsch
Schäubi "Mir ist egal, wer unter mir Gemeindepräsident
ist" und vor allem die Schamlosigkeit, mit der er damit
um sich warf, sagte alles. Trotzdem: Felix tat sein Bestes,
und hin und wieder rang er sich zu einer echt eigenständigen
Meinung durch.
Und dann eben besagter Schorsch Schäubi. Seit urdenklichen
Zeiten im Gemeinderat, nur unterbrochen durch kurze Pausen,
die ihm die Amtszeitbeschränkung auferlegte, war er das,
was man als Dorfkönig bezeichnete. Schäubis waren
eine der "einheimischen" Familien und seit Menschengedenken
im Besitz des Betriebes an der Aueren, ursprünglich eine
Sägerei. Sie hatte, zusammen mit den ausgedehnten Wäldern
im Osten an den Flanken der Auerenfluh, schon früh zu
einem gewissen Wohlstand im Dorf beigetragen. Die Nutzung
der Wasserkraft und das Sägen waren inzwischen aufgegeben
worden, aber Schäubis verstanden es geschickt, als "Holzige"
- Schorsch war Zimmermeister - das einheimische Baugewerbe
zu dominieren. Denn die älteren Häuser im Dorf waren
Riegbauten und die ersten Neubauten Chalets, als die Ansiedlung
eines Lebensmittelverarbeiters der Migros in Markingen im
Tal drunten Bachwilen einen kleinen Wachstumsschub bescherte.
Schorsch wurde selten laut. Er hatte das auch nicht nötig.
Seine tragende, tiefe Stimme, die an der stämmigen, aber
bierbauchlosen Gestalt einen üppigen Resonanzkörper
hatte, zeugte von der Gelassenheit des Mächtigen und
davon, dass er wusste, was gut für die Bachwiler war.
Am Gemeinderat und Elektriker Helmut Wismer zeigten sich
exemplarisch dörfliche Abhängigkeiten: Sein Geschäft
für Haushaltgeräte lief nicht besonders. Viele Bachwiler
kauften ihre Waschmaschinen und Kühlschränke beim
Dipl. Ing. im Amtshauptort Grafenstadt, und so war Wismer
auf jeden Auftrag angewiesen, bis hin zur Wartung der öffentlichen
Beleuchtung und der Beschallung der Mehrzweckhalle bei den
Lottos der Dorfvereine. Und natürlich auf die in letzter
Zeit eher rar gewordenen Neubauten, sonst hätte Wismer
einen Büetzer entlassen müssen oder keinen Stift
mehr annehmen können, was bedeutet hätte, dass er
wieder hätte Werkzeug in die Hand nehmen müssen,
und das lag ihm nicht. Lieber hätte er selber die Rolle
des Dorfkönigs übernommen. Zuweilen stiess ihm sauer
und schmerzlich die Erkenntnis auf, welcher Duckmäuser
er doch geworden war. Er kompensierte dies notdürftig
durch einen für Dorfverhältnisse unüblich gepflegten
Outfit - und in letzter Zeit immer mehr durch ausgedehnte
abendliche Besuche im Rössli, wo er sich nach etlichen
spendierten Runden ein bisschen wie ein Dorfkönig vorkommen
durfte. Aber der Kater folgte jeweils prompt.
Die Exotin im Kollegium war zweifellos Elsbeth Widmer, nicht
nur, weil sie hier die einzige Frau war. Sie lebte mit Stefan
"Stiefi" Trachsel zusammen im Bedli im Auerengraben
hinten, einem früheren Bad, wie es in der Gegend viele
gegeben hatte. Einzige Voraussetzungen für solche Etablissements
waren Wasser, Holz und verschwiegene Lage gewesen, wo sich
Herren und "Damen" zum Baden in grossen, geheizten
Bottichen zu treffen pflegten. Dann, als die Blütezeit
solcher Häuser vorbei war, blieb das Bedli, zunehmend
verlotternd, den Süffeln von schwarzgebranntem Härdöpfeler
vorbehalten. Wirtschaftsaufschwung und Denners Spirituosenpreise
machten auch dieser Karriere ein Ende, und das Bedli blieb
einige Zeit leer, bevor Stiefi dort einzog, das Hauptgebäude
notdürftig bewohnbar machte und eine kleine Produktion
aufbaute für Holzspielwaren, die er in Grafenstadt und
Bern auf dem Märit zu verkaufen versuchte. Mit dem Einkommen,
das Elsbeth mit ihrem Teilzeitjob als Sekretariatsangestellte
beim regionalen Sozialdienst in Markingen verdiente, reichte
es für ein bescheidenes Leben. Mag sein, dass die Konfektionierung
der mannshohen Stauden, die man verteilt an schlecht zugänglichen
Börtern und Waldrändern fand, einen nicht unerheblichen
Anteil am Einkommen - und dazu noch unversteuert - ausmachte.
Wie Elsbeth in den Gemeinderat gekommen ist? Das war so: Elsbeth
und Stiefi, politisch zwar interessiert, aber mit den lokalen
Gegebenheiten noch nicht so vertraut, wollten wenigstens einmal
im Leben an einer Gemeindeversammlung teilnehmen. Zwar musste
ein Gemeinderatssitz neu besetzt werden, aber am gleichen
Abend stand eben auch ein WM-Ausscheidungsspiel der Fussball-Nati
auf dem Programm, das durch die spezielle Tabellensituation
plötzlich wegweisende Bedeutung erhalten hatte. Die one
and only Ortspartei hatte Aschi Schnegg, Automech in Bühlers
Garage und eigentlich nur daran interessiert, in Motorblöcken
zu wühlen, zur Kandidatur überredet. Er und seine
Promotoren fanden es nicht für nötig, an der Gemeindeversammlung
teilzunehmen, durfte man doch annehmen, dass die Wahl eine
Formalität sein würde. So kam es, dass Stiefi bei
der Nachfrage des Sitzungsleiters, ob die Vorschläge
vermehrt würden, Elsbeth mit dem Ellenbogen anstiess
und sie fragte, ob sie nicht wolle. Sie zog eigentlich nur
die Augenbrauen hoch, aber Stiefi meldete sich und improvisierte
eine Rede von wegen Vertretung der jungen Generation und so.
Weil wegen des Fussballmatches sowieso nur wenige und aufgrund
einer Vorlage über den Vertrag mit der Markinger Jugendarbeitsstelle
fast nur gemeindeversammlungs-atypische Bürgerinnen und
Bürger anwesend waren, wurde Elsbeth gewählt.
Auch nicht ganz der Norm entsprach Ruedi Hofmann, war er
doch der bisher einzige Bauer der Gemeinde, der auf Bio umgestellt
hatte. Dass er zur Wahl vorgeschlagen worden war, hatte er
der Lage seines Hofes zu verdanken: Auf der Geländeterrasse
Richtung Nettigkofen, dem Nettiger Feld, gelegen, gewährte
er schon seit langem der Hornusser Gesellschaft Gastrecht.
Schon als Giel hatte sich Ruedi am Abschlag versucht, und
mittlerweile, mit Mitte dreissig und voll im Saft, war er
der beste Schläger und als solcher geradezu prädestiniert
zum Gemeinderat. Er war ein ruhiger, besonnener Mensch, der
sich nicht beirren und von seiner Meinung abbringen liess
und die unvermeidlichen Niederlage mit derselben Ruhe hinnahm,
wie er sich auf einen Abschlag vorbereitete. Die Bachwiler
Bauern hatten ihm Misserfolg mit dem Biozeugs prophezeit -
und neideten ihm jetzt den Erfolg, redeten sich damit heraus,
dass nur die Lage dafür verantwortlich sei, denn das
Nettiger Feld schloss an die neuen Quartiere an mit den Pendlern
und jungen Familien, und Hofmanns Direktverkaufs-Kiosk war
über einen gäbigen Feldweg der Weide mit den schottischen
Urviechern, den zwei Eseln, den freilaufenden Hühnern
und Schweinen entlang erreichbar - Einkauf und Hunde- oder
Kinderspaziergang waren damit ideal und attraktiv miteinander
zu verbinden.
Wie üblich im Kanton Bern waren die Bauern auch im Bachwiler
Gemeinderat übervertreten: Der zweite Landwirt war der
Hubelbauer Willy Gubler. Ihm hätte es eigentlich gut
gehen müssen, denn sein Vater hatte noch vor der Raumplanungsära
im Auerenried Land verkaufen können, als der erste Einfamilienhaus-Boom
einsetzte. Leidenschaftlicher Landwirt, der er war, hatte
er den Ertrag grösstenteils in die Modernisierung und
Mechanisierung des Hofes gesteckt. Sohn Willy konnte später
für die Häuser am Friedhofweg auch einen schönen
Schübel einstecken, aber die kostspielige und luxuriöse
Sanierung des Wohnteils, ein 7er BMW, die Sorglosigkeit der
Jungmannschaft im Umgang mit Geld und die Entwicklung des
Milchpreises brachten mit sich, dass Willy nun zu einem der
begabtesten Kläger über GATT, WTO, die im Amtssitz
Grafenstadt, in Bern und Brüssel geworden war. Trotzdem:
Dank des stattlichen Ausmasses des Hofes und weil keine Investitionen
nachgeholt werden mussten, war ihm die Härte wirklicher
existentieller Bedrohung eigentlich fremd.
Niemand hatte sich getraut, Schulleiter Hans Friedrich nicht
zu wählen, als er von einer Elterngruppe vorgeschlagen
worden war. Nicht dass er unbeliebt war, aber den typischen
Gemeindeversammlungsgängerinnen und -gängern waren
das, was sie "Intellektuelle" nannten, eher suspekt.
Er war tatsächlich so etwas wie das Gewissen des Gemeinderats
geworden, weniger in ethischer als in juristischer Hinsicht,
denn niemand - natürlich abgesehen vom Gemeindeschreiber
- war in Sachen Gesetzen und Reglementen so sattelfest wie
er. Gerade damit stiess er hin und wieder auf Widerstand.
Es wurde ihm Formalismus vorgeworfen, wenn er auf der Durchsetzung
der Bestimmungen beharrte, ja sogar Beschwerden beim Regierungsstatthalter
androhte. Man hätte sich gerne nach den eigenen Bedürfnissen
über das, was die in Bern meinten, hinweggesetzt. War
Friedrich in der ersten Zeit unnachgiebig - natürlich
nannte Schorsch das "stur" -, so verlor er, je näher
seine Pensionierung kam, langsam Lust und Kraft zu kämpfen.
Das Hickhack um die Mehrzweckhalle hatte ihn erschöpft.
Auch wenn er sich zuletzt als Sieger bezeichnen durfte, war
ihm bewusst, dass die Umstellung auf das neue Schulmodell
und damit die Tatsache, dass die älteren Schüler
nun ins Oberstufenzentrum in Markingen mussten, letztlich
ausschlaggebend gewesen war. So fiel der Plan, eine neue Schulanlage
auf der grünen Wiese zu bauen, ins Wasser. Statt dessen
wurde, wie es Friedrich schon immer angestrebt hatte, das
Hubelschulhaus saniert, gegenüber eine Mehrzweckhalle
gebaut und im neuen Dorteil ein weiterer Kindergarten eröffnet.
Es war dunkel geworden im Sitzungszimmer. Graf hatte die
Unterlagen bereit gelegt, geprüft, ob die Birne des Overhead-Projektors
nicht schon wieder das Zeitliche gesegnet hatte, und Mineralwasser
auf den Tisch gestellt. Die Gemeinderatsmitglieder trafen
nach und nach ein, steckten noch die Köpfe zusammen,
um das eine oder andere vorzubesprechen. Noch war das Kollegium
nicht komplett, als das Telefon läutete. Graf nahm stirnrunzelnd
den Hörer ab. Die Anwesenden wurden leise und verstummten,
als Graf die Hand langsam hob und sich in seinem Gesicht Betroffenheit
abzeichnete. Er legte im Zeitlupentempo auf und sagte mit
ihm selber fremder Stimme: "Unser/e Kollege/in ist soeben
tot aufgefunden worden."
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